JOHN HOLLOWAY
Mit der Logik des Kapitals brechen

Interview mit John Holloway zu seinem neuen Buch Kapitalismus aufbrechen

Inspiriert von der zapatistischen Bewegung geht der Autor des 2002 veröffentlichten Buches Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen davon aus, dass gesellschaftliche Veränderung nicht durch politische Parteien ermöglicht wird. Sein aufrührerischer, im Marxismus gegründeter Vorschlag besteht darin, eine neue Gesellschaft ausgehend von der Zerstörung der Herrschaft anstatt von der Eroberung der Staatsmacht aufzubauen.


Caros Amigos: Du sagst, dass jede radikale, auf Veränderung ausgerichtete Theorie von einer Theorie der Krise ausgehen muss. Warum?

John Holloway: Mir scheint, dass eine kritische Theorie, eine revolutionäre Theorie, keine Theorie der Herrschaftsausübung ist. Viele linke Theorien sagen uns beständig, dass wir in einer vom Kapital, vom Geld, vom Konsum beherrschten Gesellschaft leben. Gut, das wissen wir, es ist offensichtlich. Es ist ganz offensichtlich, dass wir unter einer Klassenherrschaft leben, in einer ungerechten Gesellschaft. Das Problem besteht nicht darin, dieses zu erkennen, die Herrschaft zu verstehen, sondern die Zerbrechlichkeit der Herrschaft, die Möglichkeit, mit dieser Herrschaft zu brechen; dies ist der Ausgangspunkt kritischer antikapitalistischer Überlegungen. Es geht darum, den Kapitalismus von seiner krisenhaften Beschaffenheit, von seiner Zerbrechlichkeit her, und nicht von seiner Macht her, zu verstehen.

C. A.: Und wie verstehst du den Begriff der Identität? Warum verteidigst du die »Anti-Identität«?

J. H.: Wenn die Negativität, das Nein, der Ausgangspunkt ist, so setzt dies voraus, die Welt in der wir leben, nicht als die wirkliche Welt anzusehen. Die wirkliche Welt ist die Welt, die noch nicht existiert, die Welt, die existieren könnte. Unser Denken bewegt sich jenseits dessen, was existiert und was wir sind. Also bin ich mehr als das, was ich bin. Es scheint mir sehr wichtig, die Revolution vom Bruch mit den Identitäten her zu denken. Greifen wir zum Beispiel noch einmal den zapatistischen Kampf auf: sie haben niemals gesagt, »Wir sind eine indigene Bewegung«, sondern sie haben gesagt, »Wir kämpfen für die Menschheit, wir gehen über diese Identität hinaus«. Ich glaube, dass das sehr wichtig ist, denn viele auf Identität basierende Kämpfe wurden schließlich konservativ.

C. A.: Aber ist es möglich, mit diesen Kategorien zu brechen, gerade wenn man von dieser eigenen Identität ausgeht? Wie etwa im Fall der Bewegung der Schwarzen oder der Frauen?

J. H.: Es ist klar, dass wir von unserem eigenen Ausgangspunkt ausgehen müssen. Ja, oft stellt gerade die Affirmation der Identität in solchen Bewegungen die Herausforderung der herrschenden Ordnung dar. Eine negative Affirmation. Eine Affirmation, die sagt »Sie sehen mich nicht, aber hier bin ich, was machen wir nun?« Und das geht eindeutig in eine andere Richtung als die gegenwärtige. Aber wenn ich darin verharre und nichts weiter tue, verwandelt sich diese Bewegung leicht in etwas Ausschließendes, Konservatives. Die Zapatisten hätten von Anfang an sagen können, »Wir sind eine indigene Bewegung, lasst uns für unsere Rechte als Indigene kämpfen«; viele Menschen interpretieren sie so, auch die Regierung. Aber es wäre doch eine Bewegung, die uns ausschließen würde, nicht wahr? Es ist klar, dass wir wollen, dass die Indigenen einen besseren Platz in unserer Gesellschaft erkämpfen, aber schlussendlich handelt es sich nicht darum. Es geht darum, die gegenwärtigen Strukturen zu verändern, sie als Bewegung gegen den Kapitalismus zu denken, gegen die gegenwärtige Gesellschaft.

C. A.: Und welche Rolle nimmt in der Theorie der Risse die Idee der Einheit ein? Denkst Du, dass unter den Rissen eine Einheit hergestellt werden sollte?

J. H.: Nein, keine Einheit. Ich denke, es wäre wichtig, dass die Risse sich verbinden. Vielleicht ist dies für Brasilien keine passende Metapher, aber wir können uns die Risse in einem zugefrorenen See vorstellen: wir versuchen, das Eis zu brechen, indem wir Steine in den See werfen. Es entstehen Löcher, Risse und Spalten, nicht wahr? Und von der anderen Seite werfen sie auch Steine und von einer anderen Seite auch. So in etwa passiert das heute. Es bildet sich eine Vielzahl an Rissen, die sich manchmal ausbreiten und das andere Mal wieder schließen, sodass das Loch wieder zufrieren kann. Manchmal vereinen sich die Risse, ein andermal trennen sie sich wieder. Ich stelle mir die Bewegung der Risse wie einen Prozess vor, der Vereinigungspunkte einschließt, die aber nicht aus einer besonderen Perspektive heraus durchgesetzt werden dürfen. Wenn ich hier auf dieser Seite des Sees bin und Steine werfe und sehe, dass Du das gleiche von Deiner Seite aus machst, ergäbe es keinen Sinn zu sagen, dass Du hier bei mir sein solltest. Es ist wichtig anzuerkennen, dass die Personen versuchen, das Eis des Kapitalismus auf vielerlei Arten zu brechen, und ich muss akzeptieren, dass Du dort bist. Respekt zu erweisen erfordert jedoch Kritik zu üben; ein Zusammenfließen ist höchst wichtig, der Dialog also.

C. A.: Du glaubst also, dass die traditionelle Vorstellung von der Einheit der Linken falsch ist?

J. H.: Ja, diese Idee ist schlussendlich sehr destruktiv. Sie ist unmöglich und auch nicht wünschenswert. Denn wir wollen eine Gesellschaft schaffen, in der wir tun können, was uns gefällt, was wir wollen, was für uns einen Sinn ergibt, kurzum eine heterogene Gesellschaft. Die Konzeption der Risse setzt voraus, dass wir keine andere Wahl haben als von dem Besonderen auszugehen. Wir sind hier, jede und jeder an seinem Ort, und von da aus müssen wir uns bewegen. Ihr könntet mir sagen, »Nein, wir brauchen die Einheit der Linken. Wir müssen von einem Zentrum ausgehen, die Totalität denken, von einem nationalen, globalen Programm ausgehend«, oder von wo aus auch immer. Zuerst einmal scheint mir das nicht realistisch zu sein. Zweitens öffnet das der Bürokratisierung der Bewegung die Tür und drittens schließt es die Unterdrückung vieler realer, überall vorhandener, Bewegungen ein. Ich glaube das genaue Gegenteil trifft zu: anstatt uns von der Totalität her zu denken, müssen wir von unserer Besonderheit ausgehen und unser Zusammenfließen sicherstellen. Es geht nicht um einen Zusammenschluss in der Form, dass eine politische Linie sich durchsetzte.

C. A.: Du schreibst, dass revolutionäres Denken und Praxis notwendigerweise antifetischistisch sein müssen. Kannst du das genauer ausführen? Wie sähe eine revolutionäre Praxis aus, bei der dies im Zentrum steht?

J. H.: Der Kapitalismus ist ein System, das von niemandem kontrolliert wird. Weder durch die Kapitalisten, noch durch die Regierungen. Es ist ein System gesellschaftlicher Verhältnisse, in dem die Dinge herrschen. Das Geld, das Kapital, die verdinglichten Kräfte. Also ist die Revolution ein Prozess, der erstens notwendigerweise erfordert, das Gesellschaftliche als unser verdinglichtes oder fetischisiertes Erschaffen zu verstehen und in dem zweitens Formen der Bestimmung dieses Gesellschaftlichen entwickelt werden müssen. In diesem Sinne denke ich, dass die marxistische Kritik ein Versuch ist, diese Verhältnisse zu entfetischisieren und die menschliche Kreativität ins Zentrum des gesellschaftlichen Universums zu stellen.

C. A.: Du lieferst auch eine Kritik an den Erklärungen des Scheiterns der Revolutionen des 20. Jahrhunderts, in denen immer die Begriffe Ideologie, Hegemonie oder falsches Bewusstsein eine Rolle spielen. Könntest du das erklären?

J. H.: Nun, das Problem mit den Begriffen »falsches Bewusstsein « oder »Hegemonie« besteht darin, dass sie die Vorstellung wecken, es gäbe jemanden, der kein falsches Bewusstsein hat. Und dass es deshalb die Aufgabe dieser Person sei, die anderen zu belehren und ihnen den Weg aufzuzeigen. Das scheint mir absurd und politisch betrachtet eine Katastrophe zu sein. Wenn wir nicht in Kategorien korrekten und richtigen Bewusstseins denken, sondern vom Begriff der Fetischisierung her, dann kommt darin zum Ausdruck, dass die Formen, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse im Kapitalismus existieren, bestimmte Erscheinungsformen, bestimmte reale Illusionen hervorbringen, in denen wir alle leben. Wir alle befinden uns in dieser fetischisierten Welt, während wir sie gleichzeitig theoretisch oder praktisch kritisieren. Und die Vorstellung, dass es Personen geben könnte, die über diese Fetischisierung erhaben sind, ergibt einfach keinen Sinn. Ich glaube, wir müssen von dem bereits Existierenden ausgehen, deshalb geht es nicht darum, eine Partei aufzubauen, etwas nicht Vorhandenes aufzubauen. Ich denke, wir müssen von der Vorstellung ausgehen, dass es die gewöhnlichste Sache der Welt ist, revolutionär und antikapitalistisch zu sein, in gewisser Weise sind wir es alle. Es geht darum, eine Vorstellung davon zu entwickeln, wie wir das Zusammenfließen und die gegenseitige Anerkennung dieser Rebellionen fördern können.

C. A.: Kritiker deines Buches Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen sagen, dass es anti- oder ahistorisch sei. Was erwiderst Du auf diese Kritiken?

J. H.: Mir scheint, dass die Kritik verschiedene Formen annimmt. Vor allem von trotzkistischer Seite wird manchmal gesagt, dass das Scheitern der Revolutionen des 20. Jahrhunderts mit dem Begriff des Stalinismus oder als Frage der richtigen politischen Führung zu erfassen sei, ausgehend von den jeweiligen Spezifika des Einzelfalles. Das scheint mir ein Irrtum, das ist nicht die wirkliche Geschichte, es scheint wie ein Gerüst zu sein, das dem Nicht-Nachdenken dient. Eine andere Betrachtungsweise versteht die Revolution nicht als Verwirklichung der Geschichte, sondern als Bruch mit ihr. Es existiert eine Tradition, die besagt, dass die Geschichte auf unserer Seite sei, dass sie uns zum Kommunismus führen werde. Ich glaube, dass dem nicht so ist, denn in Wirklichkeit führt uns die Geschichte in die totale Vernichtung, sodass das Problem darin besteht, ihr ein Ende zu setzen. Es gibt ein Zitat von Walter Benjamin, wo er im Grunde genommen sagt, dass wir uns im Zug der Geschichte befinden und das es nicht darum geht, wie wir den Bahnhof erreichen, sondern wie wir die Bremse ziehen, damit der Zug anhält und wir aussteigen. Und drittens gibt es eine Kritik, die ich bis zu einem gewissen Grad teile, nämlich, dass es tatsächlich wichtig ist, die Idee, die Welt zu verändern ohne die Macht zu übernehmen, historisch zu verorten und zu verstehen, dass das Konzept der Macht Teil einer historischen Konstellation ist, in der der antikapitalistische Kampf von der abstrakten Arbeit, bzw. entfremdete oder Lohnarbeit, dominiert wurde. Und der dominante Begriff beinhaltete, dass der antikapitalistische Kampf als Kampf der Arbeit gegen das Kapital zu verstehen war. Ich glaube, dieser Begriff befindet sich in der Krise und ein anderes Konzept des antikapitalistischen Kampfes entsteht, das nicht mehr auf die Ergreifung der Macht und den Kampf zwischen Arbeit und Kapital konzentriert ist, sondern das darauf abzielt, dass der antikapitalistische Kampf notwendigerweise ein Kampf gegen die Arbeit und deswegen ein Kampf gegen das Kapital, gegen die entfremdete abstrakte Arbeit ist. Und deshalb auch gegen diese ganze Welt der Fetischisierung, die aus der Zentralität der entfremdeten Arbeit entsteht. In Kapitalismus aufbrechen argumentiere ich, dass die Bewegung der Risse als Rebellion, als Revolte des Tuns, das heißt der konkreten Arbeit gegen die abstrakte Arbeit verstanden werden muss. Was also diese Risse in unterschiedlicher Form ausdrücken, ist, dass die Bewegung sich gegen die abstrakte und entfremdete Arbeit richtet, dass es eine Bewegung für eine andere Form von Tätigkeit hier und jetzt und nicht erst nach der Revolution ist.

C. A.: Denkst du, dass man auch von Rissen sprechen kann, wenn der Kampf der Arbeit gegen das Kapital sich innerhalb des Kapitalismus bewegt und deshalb nicht die Antwort oder die Revolution bedeutet?

J. H.: Ich denke, dass alle Kämpfe widersprüchlich sind. Der Kampf um bessere Arbeitsbedingungen ist normalerweise gleichzeitig ein Kampf gegen die existierenden Bedingungen, ein Kampf der Menschen, die sagen, »Wir sind mehr als Arbeiter, wir sind Menschen, wir wollen, dass unsere Würde respektiert wird«. Der Kampf überschreitet also immer die Grenzen.

C. A.: Ein Charakteristikum des Kapitalismus ist seine Fähigkeit, alles in Waren zu transformieren, einschließlich der gegen ihn geübten Kritik. Das stellt sicherlich ein Risiko für die Risse dar: Wie können sie der Vereinnahmung durch das System entgehen?

J. H.: Ich denke, dass dies ein ständiger Kampf ist. Wenn wir alle Erfahrungen mit den Rissen, alle autonomen Bewegungen, alle Proteste betrachten, sehen wir, dass sie beständig auf der Suche nach Formen sind, wie die Re-Integration ins System verhindert werden kann. Es gibt keine Zauberformel. Für mich zählen diesbezüglich zwei Dinge: Erstens ist für mich die Negativität von großer Bedeutung. Man muss die ganze Zeit über denken, »Gut, beginnen wir mit diesem Schrei gegen die existierende Welt«, ein wirkliches »Nein!«, und dies muss immer präsent sein. Die andere Sache ist, dass man permanent in Bewegung bleiben muss, sich fortwährend bewegen und verändern muss. Das Kapital ist ein Prozess, der den Rebellionen hinterherläuft, also müssen diese schneller sein als das Kapital, müssen neue Organisations- und Ausdrucksformen erfinden.


Gekürzte Fassung des Interviews mit John Holloway zum Erscheinen seines Buches Crack Capitalism (Pluto Press, London, Mai 2010) in spanischer Sprache, geführt am 7.2.2011 von den Journalistinnen Gabriela Moncau und Julio Delmanto in der Autonomen Universität Puebla (BUAP), zwei Stunden von der mexikanischen Hauptstadt entfernt gelegen, wo Holloway seit mehr als zwanzig Jahren lehrt. Das Interview erschien in der brasilianischen Zeitschrift Caros Amigos Nr.168 im März 2011 (www.carosamigos.com.br). Übersetzung aus dem Portugiesischen und Spanischen von Dorothea Härlin und Lars Stubbe, Dezember 2011.

John Holloway: Kapitalismus aufbrechen. Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2010. 24,90 Euro, 275 S. ISBN 978-3-89691-863-5

 

 

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floppy myriapoda
Subkommando für die freie Assoziation
Heft 20/21, Berlin, November 2012
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